DEM AACHKATZL AUF DER SPUR
Auf der Suche nach dem sagenumwobenden Haus 1000

Es war einmal ... so beginnen die meisten Märchen und auch manche Erzählungen. Doch was über das "Aachkatzl" aus Silberbach
erzählt wurde, war wirklich einmal.

Adolf Lienert, der mir über seinen Tod hinaus durch seine Berichte und Erzählungen die Silberbacher Kunde lehrte, schrieb
die Geschichte vom Silberbacher Aachkatzl auf und sendete sie - um sie für die Nachwelt zu erhalten - an die Redaktion der
Graslitzer Nachrichten. Ich möchte sie nun - zum besseren Verständnis - kurz wiedergeben:

 

Das Aachkatzl (Eichkätzchen/Eichhörnchen) ist gewiss kein Tier - es handelt sich dabei um einen wahrhaftigen Menschen,
der von allen nur "das Aachkatzl" genannt wurde. Sein Hausname war "Luxrichard", sein Spitzname"Pflastererrichard", richtig
hieß er: Richard Lorenz.

Richard war ein Eigenbrödler, doch er war ein fleißiger und herzensguter Mensch, der sich vor keiner Arbeit drückte - vor allem
beim Pflastern konnte ihm niemand etwas vormachen. Deshalb bat ihn Herr Lienert, seine Hofeinfahrt zu pflastern, was er
dankend annahm und die Arbeit auch schnell verrichtete.

Das Aachkatzl wohnte mit seiner Gemahlin hoch oben im Ortsteil Berg. Als ihm seine Unterkunft jedoch gekündigt wurde,
bekam er bei der Kraut Emma am Berg ein kleines, nicht beheizbares Stüberl, was seiner Frau mißfiel und sie ihn daraufhin
verließ. Aus der kleinen Stube musste er aber auch bald ausziehen, woraufhin er obdachlos wurde.

Also schlich er sich in den Wald, ernährte sich von dessen Früchten und suchte sich einen Platz am Berg, an dem er anfing
zu graben. Um den Platz herum war eine Steinmauer, in die er sogar ein Loch schlug. Er nahm einen kleinen Ofen sowie einen
Faulänzer (eine Art Liege oder auch Sofa) - und ein Tischel und machte es sich unter dem freien Himmel bequem.

Dies konnten die braven Silberbacher Bürger nicht mit ansehen und halfen ihm dabei, sich ein kleines Häusel zu bauen.
Jeder packte mit an, holte Holz aus dem Wald und brachte eigene Bretter-, Dachpappereste und übrige Nägel. Bald darauf
konnte das Hebfest gefeiert werden, das zu einem richtigen Silberbacher Volksfest wurde. Der Gemeindeverwaltung gefiel
dieses Spiel so sehr, dass sie dem kleinen Häusel am Berg aus Alberei (zum Spaß) die Hausnummer 1000 verliehen.

Das gute Aachkatzl überlebte den Krieg nicht, woraufhin sein Haus leer stand. Nach der Vertreibung der deutschen
Bevölkerung wurde wahrscheinlich auch sein Haus - wie alle anderen Häuser am Berg - dem Erdboden gleich gemacht.

 

Jahrzehnte später wagten mein guter Freund und Verwandter, Jari Zapletal und ich einen sehr schwer durchführbaren Versuch:
Wir wollten den Platz des sagenumwobenen Hauses 1000 mit Hilfe einer alten Häuserkarte und eines Satellitenbildes aus
den 60er Jahren finden.

Dieses Vorhaben hatte eine gewisse Ironie, wenn man bedenkt, dass mein Urgroßonkel Alfred Hochmuth (Karlwenz-Alfred)
in Lienerts Erzählung die Frau Oberpostmeisterin Aloisia Lienert mit seinem Pferdefuhrwerk zum Hebfest genau jenes Hauses fuhr,
um sie dort abzuliefern. Jahrzehnte später macht sich nun also sein Urgroßneffe auf den Weg, um die letzten Reste des Hauses zu finden.
Alfred hätte über diese Begebenheit sicherlich auch schmunzeln müssen.

Ein witziger Zufall war auch, dass der schon Wochen im Voraus geplante Sonntag auf den Ostersonntag dieses Jahres fiel.
Gewöhnlich sucht man an diesem Tag nach Ostereiern und mit Schokolade gefüllten Nestern, doch in diesem Jahr suchten
wir nach Häuserresten.

 


DER AUFSTIEG



Über den Hammerrain wagten Jari und ich den steilen Aufstieg. Als waschechter Silberbacher der neuen Generation kannte er
sich dort oben natürlich sehr gut aus. Zuerst zeigte er mir das Haus seiner Ahnen der Hartl bzw. Böhm-Seite - das Haus des Stauvuaglelias
- oder was zumindest davon übrig war. Ich rief mir das große Anwesen, das ich von vielen Fotos her kannte, in Gedanken.

Was mir nach all dem Keuchen durch den anstrengend steilen Aufstieg erst nach einer Weile auffiel, war die wundervolle Aussicht, die mir
gleich erneut den Atem raubte. Wie schön musste doch das Leben dort oben gewesen sein, wenn man am frühen Morgen die Fensterläden
öffnete und mit solch einem Ausblick auf das wunderschöne Erzgebirgsdorf gesegnet war. Ich schoss viele Fotos, doch leider konnte man
die ganze Schönheit nur schlecht einfangen - Bilder werden der Wirklichkeit in diesem Fall nicht wirklich gerecht.

Eine Gänsehaut lief mir über den ganzen Körper und ich konnte meinen Blick nur schwer abwenden - aber wir hatten noch einen weiteren
steilen Aufstieg vor uns. Ich beschloss innerlich, in diesem Sommer wieder einmal dorthin zu laufen, um mir die langsam untergehende Sonne
über dem Tal anzusehen.

Vom Stauvuäglelias-Haus aus holten wir die Häuserkarte sowie das Satellitenbild aus meinem Wanderrucksack und überprüften unsere Lage,
indem wir beide Karten miteinander verglichen. Wir wollten sicher gehen, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Die damaligen Pfade waren
recht verwachsen, doch wenn man die vielen einsamen Jahre bedenkt, in denen der Ortsteil Berg der Natur überlassen war, waren sie
eigentlich doch noch sehr gut sichtbar.

Als ich einige Wochen nach diesem Ausflug meine Verwandte Traudl (geb. Sattler aus der Leopoldgasse) besuchte, erzählte sie mir, dass
alle Häuser am Berg abgerissen wurden, weil man befürchtete, dass sich sonst Gesindel in der menschenverlassenen Gegend ansiedeln würde.
Irgendwie konnte man es ja verstehen und es wäre sicherlich auch kein schönes Schicksal für die Häuser vieler fleißiger und rechtschaffender
Menschen gewesen, hätten sich dort Kriminelle und Vandalen eingenistet und diese auf ihre eigene Weise heruntergewirtschaftet. Doch wollte
man sich ebenfalls nicht vorstellen, dass deshalb all diese auf den Bildern zu sehenden imposanten Häuser und Höfe einfach in die Luft
gesprengt wurden.

"Hier wohnte auch ein Hochmuth - ein Emil Hochmuth - Verwandtschaft von Dir?", riss mich Jari aus meinen Gedanken, während er auf die
Grundmauern eines Hauses zeigte. Mir war während meiner Recherchen nie aufgefallen, dass es auch Hochmuths am Berg gab. Bisher konnte
ich diesen Emil Hochmuth (Hausname: Dannler) meinen Ahnen noch nicht zuordnen, doch ich bin mir sicher, dass dies spätestens nach
Veröffentlichung der neueren Kirchenbücher des Archives Pilsen möglich sein wird.

Wir setzten unseren Weg am Nachbarhaus des Dörfler Emils fort, gingen an den Höfen der Lorenz Anna, des Böhm Josef und des Böhm Eduard
vorbei und kamen an einen großen Steinwall, hinter welchem sich die Häuser des Böhm Josef, Illner Edmund und des Weck Anton befanden.
Ein Vorteil an den noch existierenden Grundmauern der Häuser war, dass wir sie abzählen konnten, um uns dem Platz des Aachkatzl-Hauses
allmählich nähern zu können.

Als wir einen weiteren steilen Hügel erklimmten, bemerkten wir die Reste zweier sehr großer Höfe. Es war nicht mehr sehr viel davon zu sehen,
doch im einstigen Garten hinter den Häusern standen die Brunnen und waren Zeitzeugen des Lebens am Ortsteil Berg.

In meinen Gedanken spielte sich beim Anblick dessen ein kleiner Film ab, in welchem die fleißige Fuchs Anna zu ihrem Brunnen ging, um dort
Wasser zu holen. Wahrscheinlich wollte sie für ihren Ehemann ein "Dippl Erdäpplsupp oder Franzlsupp" (Töpfchen mit Kartoffelsuppe oder
Omelettesuppe) kochen. Im Geiste war der Platz lebendig. Es wäre interessant zu wissen, ob die Häuser wirklich so wie in meiner Vorstellung
aussahen. Wenn man dies wüsste, könnte man beurteilen, ob mein "Kopfkino" nur meiner blühenden Fantasie entsprang oder ob mir die brave
Fuchs Anna oder ihr Nachbar, der Rödig Josef ihr einstiges Zuhause zeigen wollten. Der Ort hatte etwas magisches an sich.

 

ORIENTIERUNGSLOS



Als wir ein Stück weiter gingen, verloren wir die Orientierung. Der Weg war nun auch plötzlich verschwunden und entgegen unserer Berechnungen
müsste nun das Aachkatzl an einer völlig freien, spurenlosen Fläche gewohnt haben. Dies wäre zwar auch denkbar gewesen, jedoch wäre dann
auch von den Nachbarhäusern nichts mehr zu sehen, was nach den immer wieder auftauchenden Grundmauern fast aller Häuser des Berges
schon ein wenig seltsam gewesen wäre.

Jari kämpfte unermüdlich weiter mit den Plänen. Immer wieder wanderte er von einem Punkt zum Anderen, um nachzuprüfen, wo unser jetziger
Standort auf der Karte war (ich selbst hatte schon einige Minuten vorher jegliches Orientierungsgefühl verloren). Schließlich erkannte er das
Problem: Wir stoppten an einem Wald, der anscheinend damals noch nicht vorhanden war.

Der Boden wurde etwas sumpfig, was ein Gutes Zeichen dafür war, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Jari erklärte mir, dass die Häuser
am Berg meist in der Nähe einer Wasserquelle standen, damit die Einwohner des jeweiligen Hauses es nicht weit zum Wasser holen hatten.

Wir liefen immer weiter durch das tiefe Dickicht und ich hätte darin wirklich keine Häuser mehr vermutet, doch plötzlich lichtete sich das Geäst
und wir standen vor dem ehemaligen recht großen Hof des Garreis Franz. Wir waren nun in der unmittelbaren Nachbarschaft des Aachkatzls
und wussten, dass unsere Suche bald beendet sein würde.

Vom Garreis-Hof kamen wir wieder zurück zu einem gepflegten und idyllischen Waldweg, der wohl früher einmal ein gewöhnlicher Weg war.
Er sah so gut erhalten aus, dass man vermuten konnte, er würde auch heute noch als Forstweg genutzt werden. Links von uns tauchte alle
paar Meter ein Häuserrest auf. Jari war sich sicher, dass einer davon das Heim des Aachkatzls sein musste. Es fehlte uns jedoch ein
Anhaltspunkt, der bestätigte, dass wir wirklich auf dem richtigen Weg waren.

"Laut Karte müsste der Weg oben nach links und rechts abzweigen" rief mir Jari zu, während er hochkonzentriert in die Karte sah.
Tatsächlich geschah dies auch, doch nirgendwo war das Haus des Hergeth Josef zu sehen, dass uns beweisen sollte, dass wir auf
dem exakt gleichen früheren Weg liefen. Wir gingen einige Male auf und ab, doch konnten keine Spur des Hauses entdecken.
Fast hätten wir schon aufgegeben, als es Jari plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel:

Seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, hatte er gerade einen Geistesblitz, doch ich konnte noch nicht nachvollziehen, was ihm aufgefallen war.
Hastig und wieder vollkommen motiviert verließ er den Pfad und sprang mit einer gewissen Unbeschwertheit und Leichtigkeit zu einer Stelle,
die einer kleinen Grube glich.

"Wieso bin ich nicht gleich darauf gekommen?" sagte er und zeigte auf einige halb verfaulte Holzbretter und den Rest einer Wasserleitung,
die auch aus Holz bestand. "Das Hergeth-Haus könnte auch ein Holzhaus gewesen sein! Wahrscheinlich ist deshalb gar nichts mehr davon
zu sehen! Schau mal auf den Boden - das sieht doch aus, als hätte hier ein Haus gestanden!" sagte er.

Ich konnte ihm nur zustimmen. Es sah wirklich so aus, als wäre an diesem stark bewaldeten Platz etwas gestanden. Wenn man genau hinsah,
konnte man sogar noch den Eingang entdecken. Eine weitere Untersuchung der Stelle brachte uns eine erneute Bestätigung: Rings herum
lagen die schon sehr verrosteten Reste alter Töpfe und Eimer. "Die sind noch von damals", merkte Jari an.

Mit dieser Erkenntnis verließen wir den Platz des einstigen Hergeth-Hauses und liefen den Weg zurück. Genau drei Häuserreste
konnten wir auf einer freien Wiesenfläche neben dem Waldweg sehen, die nacheinander die Häuser der Rödig Ida, des Aachkatzls
und des Weck Antons ergaben. Schnell betraten wir diese Wiesenfläche und begutachteten die Grundmauern der Häuser.

 

DAS AACHKATZL-HAUS


Vor einem Haus - dem Aachkatzlhaus - blieben wir andächtig stehen. Wir hatten es also geschafft - vor uns standen die Reste des kleinen
Häuschens, dass ganz Silberbach für den gutherzigen Lorenz Richard (damals wohl eher als Luxrichard bekannt) gebaut hatte. Die letzten
Reste des Zeugnisses einer Zusammenarbeit eines ganzen Dorfes und der Beweis des Zusammenhalts unter den Menschen - einer
Gemeinschaft, die später gewaltsam getrennt wurde.

Da wir uns ja sehr weit oben befanden, hatte ich einen ausgezeichneten Empfang des deutschen Mobilfunknetzes und konnte deshalb das
einstige Bild des Aachkatzlheims von meiner Internetseite laden. Durch den direkten Vergleich von früher und heute konnten wir ein
weiteres Mal sicher gehen, dass dies die richtige Stelle war.

Zum Abschluss setzte ich mich auf den noch immer existierenden Steinwall vor dem Platz des Aachkatzlhauses - ich nahm dabei eine
ähnliche Position wie Richard Lorenz ein (siehe Bild). Jari schoss noch ein schnelles Beweisfoto. Eine kurze Zeit verweilten wir noch an
diesem Ort und ich bin sicher, dass uns beiden dabei einige Bilder von einer Zeit, in der der Berg noch besiedelt und voller Leben war,
durch den Kopf schossen.

Wieder endete eine Reise in die Vergangenheit, die Erforschung eines weiteren Puzzleteils, das im Gesamtbild nichts anderes ergab
als die Heimat unserer Familie, die eigentlich doch auch unsere Heimat war und ist. Ständig dachte ich daran, wie es wohl heute dort
oben aussehen würde, wären die einstigen Bewohner nicht von dort vertrieben worden.

Während wir langsam wieder hinab nach Silberbach stiegen, dachte ich nochmals daran, wie beschwerlich der Weg doch für die "Berger"
sein musste, doch hätte ich jeden Morgen die Aussicht genießen können, die sie wohl beim Blick aus dem Fenster hatten, hätte ich
wahrscheinlich auch gerne den beschwerlichen Heimweg von meiner Arbeitsstätte in Graslitz oder Silberbach auf mich genommen.
Wieder einmal war ich Jari sehr dankbar, mit mir diesen Ausflug unternommen zu haben.

Benjamin Hochmuth (Karlwenz)