DIE TRADITIONELLE PFINGSTWANDERUNG
IN SILBERBACH - EIN VERGESSENES BRAUCHTUM?

Meine liebe Großtante erzählte mir oft von einer gemeinsamen Wanderung auf den Spitzberg. Während sie diese Wanderung
bedächtig und detailliert beschrieb, leuchteten ihre Augen, als würde sich das Ereignis dabei in ihrem Geiste noch einmal
abspielen. Man konnte dabei sehen, was für ein einmaliges Erlebnis es doch gewesen sein muss, dass sie Jahrzehnte danach
noch davon schwärmte.

"Um Mitternacht - es war stockfinstere Nacht - gingen wir los. Wir waren ein lustiger Haufen und haben viel 'dischkeriert' (geplaudert)
und gelacht. Oben angekommen warteten wir auf ein Naturschauspiel, das bei uns 'dahamm' einmalig war. Du musst wissen, es
gab keinen schöneren Anblick als den Sonnenaufgang auf unserem Spitzberg. Da hat sich das Warten immer gelohnt. Das musst
Du Dir selbst einmal ansehen, Du wirst begeistert sein!"

Erst später erfuhr ich durch einen Bericht unseres allseits bekannten und beliebten Adolf Lienert in den Graslitzer Nachrichten, dass
diese Wanderung nicht nur ein Ausflug meiner lieben Großtante und ihrer Freunde war, sondern eine alte Tradition unter den
Silberbachern darstellte. Diesen Bericht möchte ich unten anführen, denn niemand könnte es besser erklären als
unser "Lienert Dolf".

Aus diesem Grund dachten wir uns, es wäre eine gute Gelegenheit unsere Frühjahrswanderungen mit einem Aufleben der alten
Silberbacher Tradition zu verbinden und zusätzlich zur geführten geschichtlichen Wanderung eine
"Pfingstwanderung" auf den Spitzberg anzubieten.

Eine im nachfolgenden Bericht beschriebene Besteigung direkt an Pfingsten ist eher unwahrscheinlich, jedoch könnte man dies
doch (natürlich in der wärmeren Jahreszeit) einmal an einem Wochenende angehen. Wer Interesse hat, kann sich gerne unter
karlwenz@silberbach-graslitz.de melden!

 

Hier nun der Bericht von Adolf Lienert (Quelle: Graslitzer Nachrichten):

 

PFINGSTWANDERN

Silberbachern unbekannt. Sie gingen wohl im Frühjahr nach Klingenthal auf die Kirchweih, zu Jakobi "auf" Schönau und Ende August auf das weit berühmte Frühbusser "Fast". Doch man ging da hin um des Zieles wegen und nicht um zu wandern. Die Jugend stieg alle Jahre zu Pfingsten einem alten Brauch folgend auf den Spitzberg, um den Sonnenaufgang anzusehen.

Doch "wandern" nannten sie das auch nicht. Die ersten Wan-derfahrten unternahmen die Gründner "Landfahrer", die "Ringpfadfinder" vom Hof und die Jungschärler von der Bürgerschule in den zwanziger Jahren. Erst als der Schreiber dieser Zeilen die Turnerjugend übernahm (1932), wurde Wandern ein Teil des Turnprogramms. Sommer und Winter wurden nun Fahrten unternommen und das Abkochen im Freien und das Schlafen im Heu oder auf Stroh gepflegt. Besonders waren es die Pfingstfeiertage, die zu ausgedehnten Wanderungen ins Egertal oder am Erzgebirgskamm hin aus-genützt wurden. Da zogen dann die Buben und Mädel fähn-leinweise mit wehendem Wimpel und klingendem Lied am frühen Sonntagmorgen aus und kehrten dankbar voller Erleb-nisse am nächsten oder übernächsten Abend wieder heim. Für viele waren es die ersten schönen Natur- und Gemeinschaftserlebnisse, die sich ihnen tief ins Herz prägten und unvergesslich blieben. Dennoch scheint mir jener unvergessliche Eindruck ebenso groß zu sein, der sich uns Knirpsen einprägte, wenn wir mit den "Großen" auf den Spitzberg gingen.

Wenn es dem Pfingstabend zuging, befiel uns Kinder eine zunehmende innere Unruhe. Die "Großen", das wussten wir, würden wieder in der Nacht zum Pfingstsonntag auf den Spitzberg zum Sonnenaufgang gehen. Wir aber? Wer von uns werde für würdig befunden, von ihnen mitgenommen zu werden? Das war eine Auszeichnung besonderer Art, eine Belohnung unseres Verhaltens des ganzen vorausgegangenen Jahres, eine Anerkennung unseres Alters und ein Eintritt in den Kreis der "Großen".

Die "Großen" mussten es selbst unter sich ausstreiten, wer von uns Kleinen in der Nacht mitgenommen werden sollte. Und bevor es duster ward, wussten wir Bescheid. Dann ließ uns der Stolz kaum Hunger spüren. Wir konnten am Abend kaum einen Bissen essen und die Zeit kroch qualvoll langsam voran. Um zehn Uhr abend entschlief der eine und der andere von den Kleinen und war um Mitternacht nicht mehr wach zu kriegen. Die "Großen", ob Buben oder Mädeln, vertrieben sich die Zeit durch allerlei Spiel oder mit Gesang, oder auch mit Musikmachen. Irgendeine Unruhe war dennoch auch in ihnen. Ich kann mich nicht erinnern, dass es einmal regnete an einem solchen Pfingstsamstag. Es roch wunderbar, wenn man aus der Hutzenstube, wo man sich wach gehalten hatte, ins Freie trat und singend, nicht johlend, den Weg bergwärts nahm. Jeder wusste, wo im Vorbeigehen, die anderen noch herausgepfiffen werden mussten ... Je länger wir auf der Straße waren, desto länger wurde der Zug der Nachtwanderer. Oben im Peterwinkel oder im Gottelwenzelwinkel machten wir nochmals kurze Rast, eine Verschnaufpause, drehten uns um und sahen ins Tal zurück. Hell leuchteten die Sterne in der dunklen Himmelsglocke. Dunkle Schatten waren die letzten Hütten mit den hohen Schirmbäumen davor und dunkle, gespenstische Schattenumrisse wogten unruhig am Weg, oft vom Gebüsch am Rande nicht mehr zu unterscheiden. Aus einzelnen Fensterlein im Matzenwinkel oder auf der Hofwiese schimmerte noch verloren ein Lichtlein, das wohl einer fleißigen "Nahterin" zu der späten Stunde noch auf dem Nährahmen leuchten musste. Man konnte es weithin sehen. Einmal stand auch der Mond so wundersam hell am Himmel und goss sein silbernes Licht ins silberne Tal, dass es ganz märchenhaft war. Das ergriff einen jeden. Dann traten wir ein in die stockfinstere Nacht des Hochwaldes, stiegen aufwärts über den "Breiten Stein" oder auf der "Ebnt" entlang. Gruselig dunkel war es, dass die Gespräche urplötzlich verstummten und einer des anderen Nähe nur noch fühlte. Wenn er nicht gewusst hätte, dass die anderen noch da sind, hätte er sich gefürchtet. So huschelten wir uns aneinander und schwiegen. Unheimlich war die Last der Dunkelheit. Einige freche Buben, die schon einige Male mit beim Sonnenaufgang waren, konnten in ihrer Wildheit noch ins Dickicht kriechen und an einer Engstelle des hohlen Weges die Mädchen durch schauerliche "Schuuuhuuu!" er-schrecken. Weiter oben, wo ihnen der Wald fremder wurde, da verstummten auch sie. Am Spitzberghau betraten wir für kurze Zeit eine Blöße, die den Himmel freigab und wir atmeten erleichtert auf. Jetzt hatten wir nur noch das letzte Stücklein bis zum granitenen Spitzbergfels. Es war ein schmaler Steig durch Jungfichten, auf dem einen die spitznadeligen Äste in die Augen schlugen, wenn der Vordermann wenig Rücksicht nahm. Mit einem lauten Ruf kündete der erste, dass er das Gefels erreicht habe. Nun waren wir wieder aus der Enge des Waldes herausgetreten und der weite Himmel grüßte uns. Wir waren ihm ganz nahe gekommen. Das Firmament war nicht mehr so dunkel wie daheim. Es mochte zwei Uhr oder halb drei morgens sein. Drüben am Sauersack waren die weißen Nebelschleier über den Hochmooren gut zu sehen, während hinter unserem Rücken der Eselsberg, der Eibenberg und Aschberg sowie die Häuser von Schwaderbach noch im Schatten der Nacht ruhten. Wir "heilten" uns eng aneinander und warteten. Der Weg herauf hat uns in Dampf gebracht, besonders das letzte Stückel. Bald fröstelten wir aber, denn da heroben blies ein frisches Lüftchen. Um uns die Zeit zu vertreiben, erzählten wir wieder oder sangen Lieder. Meist solche, die wir in der Schule gelernt hatten, oder wir lernten durch Nach- und Mitsingen von den Großen ein neues, z. B. "Auf der Elbe sind wir gefahren, in der Nacht von zwei bis drei ..." oder "Ein Schifflein sah ich fahren, darinnen drei Grafen waren ...". Warum wir so gerne von Wasser und Schifflein sangen, weiß ich nicht. Aber die großen Mädeln hatten es gesungen und darum war es für uns Grund genug, daran Freude zu haben.


Wenn sächsische Wanderer oben waren, das kam auch vor, dann waren sie schon am Abend vorher gekommen und hatten am Spitzberg im Freien genächtigt, dann schwiegen wir. Denn denen ging die Klappe nicht zu. Und was wir da alles hörten! Da waren unsere größten Maulaufreisser wahre Waisenknaben dagegen. Und lange hernach noch waren solche Wortfetzen in aller Munde. Wenn dann die Gründner kamen, die wussten die Aufstiegszeit besser abzuschätzen, dann wussten wir, dass es nicht mehr lange dauere, bis das verheissene Wunder des Sonnenaufgangs am Pfingstsonntag sich uns auftat. Aus der Ruhe der weichenden Nacht schreckte ein Vogel auf und rief einen Laut. Dann war es eine Weile still und dann rief woanders ein anderer Vogel von dergleichen Familie. Später setzten dann da und dort Vogelrufe ein, sie wurden länger und es ward ein Lied daraus.

Im Osten hinter Sauersack und Hirschenstand war schon ein breites Band rosigen Lichtes aufgehellt. Ein feiner roter Streifen stieg unbeachtet ins Firmament und plötzlich rief der Aufpasser: "Sie kimmt! Sie kimmt!" Dann stürmten wir alle zur höchsten Felsenstelle und starrten auf das blutrote Sonnensichelchen, das sich ganz langsam hinter den fernen Wäldern aus den Schleiern des Morgenrotes schob und in verklärender Pracht zur königlichen Scheibe wuchs. Der Pfingsttag kam auf die Welt, wir erlebten seine Geburt. Die drei Sprünge, die die Sonne dabei mache, versuchte ich mir immer einzureden, denn die anderen wollten es ja auch gesehen haben. Als dann das Sonnenrund frei am Himmelsrande schwamm, war der Bann gebrochen. Wir atmeten freier und wurden lauter in unserem Benehmen. Nun war unseres Bleibens hier nicht mehr, wir drehten wieder um und stiegen vom Berg hinab. Manchmal fanden wir am Rande des Hochwaldes schon lichtes Buchenlaub. Dann nahmen wir uns einen Pfingstbuschen mit heim. Und wenn die Daheimgebliebenen zur Ersten Messe gingen, kehrten wir heim, gleichsam als hätten wir Pfingsten geholt. Hell prangten die jungen Birklein rechts und links der Haustüren, die ein jeder dort angebracht hatte, dass sich der heilige Geist dort niederlassen könne. Die Sonne schien bereits hell ins Getal. Das war immer so. Waren nicht alle unsere Kindertage sonnig?

Adolf Lienert